January 12, 1939

 

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Mein teures Kind! Brünn, 12. I. 1939

Nächste Woche Paket mit Gewünschtem

Ich muß dir doch nicht sagen, daß dein Geburtstagsbrief
mich überglücklich gemacht hat und mein s wertvollstes
Geschenk war. – Allerdings habe ich auch von Bertuschka
und Lußinka prachtvolle Geschenke erhalten. Auch
von Wien kamen sowohl von meinen teuren Eltern
und Geschwistern sowie Elsa Sulzer, einer treuen
Freundin, sehr gefühlvolle Briefe zu meinem
halben Jahrhunderttage. - Aber ganz besonders hat
sich Familie Spitz eingestellt, voran meine herrliche Freundin
Frau Therese. – Das ist ja ein Prachtmensch und gebe Gott,
daß wir hier noch lange Zeit so schön und glücklich
wie bisher leben und arbeiten könnten. ––

Aber leider sind die Perspektiven keine günstigen.
Heute herrscht in Mitteleuropa, dem Lande der
„Kultur“, nur Gewalt, Banditentum, Raub, Verbrechen
und die finsterste Intoleranz. Also was haben wir
unglückliche Juden hier noch zu erwarten als grausamste
Vertreibung und verbrecherischeste Behandlung bzgl.
Besitz und Freiheit. – Wären aber die „Juden“ hier
so tapfer und so organisiert, so diszipliniert
und todesmutig wie die Betharim1, dann hätten
die Faschisten und kapitalistischen Verbrecher – Antisemiten
nicht so leichtes Spiel und könnten unter Beifall
klatschen der übrigen „gesitteten“ Welt uns Juden nicht

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so langsam, aber sicher ausrauben und erwürgen - - .
Der alte Verräter und Schuft fährt mit seinem
Ombrellino nach Rom und zu anderen Spitzbuben,
aber für die unglücklichen Juden hat er keine Zeit,
nur Worte – Weiß Gott, ob er nicht am liebsten
die reizenden Ideen und Kulturerrungenschaften
Hittlers und Konsorten in seinem Lande nachahmen
möchte, wenn er so könnte, wie er und seine Specis wollen.
Es ist furchtbar bitter und einfach unbegreiflich, daß
auch hier schon die Juden so vergrämt, verbittert,
mit geschreckten und verstörten Mienen einherschleichen
und sich vor jedem Polizisten oder dergleichen zittern
müssen, nur weil sie Juden sind, obwohl noch vor
kurzer Zeit Tschechoslowakische Bürger, heute
aber, weil einige Milimeter von den neuen Grenzen
entfernt wohnend schon „Ausländer“ sind, selbstverständlich
lästige, weil Juden. – Und das schönste und das
furchtbarste an diesen Grenzen ist die bedenkliche Tatsache,
daß diese willkürlichen Grenzen noch immer nicht
garantiert sind und morgen schon der deutsche
Militärstiefel weiter marschieren kann und wieder
1000 und tausende unglücklichster Juden fliehen
müssen vor dem Ansturm dieser Bestien in Menschen-
gestalt. – Und die Sozialisten vergessen, ja ver-
raten ganz gemein und niederträchtig feige ihre

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Lehrer und Meister, ihre Befreier aus dem
kapitalistischen Joche und Ausbeutung. - Aber nicht nur,
daß diese Verräter nicht helfen, ja sie sind sogar
die ehrgeizigsten SA- und SS Männer geworden
und peinigen und töten ihre einstigen treuen
Kameraden noch lieber als jeden andern . . . .
Das sollen sich die jüdischen Kommunisten und
übrigen Assimilations-sozialisten hinter ihre
idiotischen Ohrwascheln2 schreiben, daß es immer
ein Wahnsinn und ein unverzeihliches Verbrechen
gegen das eigene Volk war und sein wird, wenn
man statt das eigene Volk zu befreien, den
„Arbeiter zu befreien“ vorgibt. - Aber alle diese
Plattenbrüder3 und Vagabunden gehen gerne jetzt
nach Erez, da auf der ganzen Welt niemand
neugierig ist auf diese verpatzten Juden. –
Gott sei dank, daß es schon in den Hirnen der meisten
Sozi-Juden und Assimilanten zu dämmern beginnt
und der Blick gegen Osten gerichtet ist. – Von hier
geht jeden Monat erstklassiges Bethar-Material
zu euch hinaus und wir alte und echte, treue
Zionisten tragen das unsere dazu bei, um in
allen Kreisen hier für Palästine zu arbeiten. –
Daß ich sehr für Bethar s agitiere, kannst du

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bin, das weißt du doch. – Auch ist hier ein gewisser
Pollak, der Bruder von Arthur [Granz oder Franz?], ein hervorra-
gender Bethar, der tapferste, ehrlichste und unerschro-
ckenste Bethar, den ich je im Leben gesehen habe. –
Auch ist er der Begründer der Bewegung hier und
in der Slowakei. – Er intressiert sich sehr für deine
Briefe. - Ich wäre auch schon glücklich, wenn ich mit
meiner geliebten Frau S... dort wären . . . .

Berthuschka will jetzt auch hinunter, leider ist sie
zu spät zur Vernunft gekommen und von ihrem
Sozialismus schon ziemlich ausgeheilt. - Aber sonst ist
sie recht brav und fleißig und ich wäre schon
sehr froh, wenn sie dich ein bischen frisieren könnte.
Lußinka ist ein reizendes feines Mädchen und
geht nach England in eine Hachscharah4, von dort
zu dir. —- Hoffentlich hast du Freude mit den
Bildern und nächstens kommt mein Bild. -
Bitte bei Gelegenheit die Ruthie Kogos, die
Tochter meiner Kousine Bertha aus Brünn,
aufzusuchen; sie ist eine stramme Betharistin
aber kochen kann sie nichts. — Ihre Adresse ist:
Ruth Kogos, Plugah Betar-Natanya. ––
Ich bin gesund, glücklich, manchmal unglücklich
aber einstweilen noch glücklich. Bitte schreibe
bald – deinem
treuen Papsi Hugo

 

Transcription by Brian Middleton, edited by Barbara Sommerschuh of Sütterlinstube, Hamburg, Germany

Footnotes

1. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Betar

2. Ohrmuschel (österr.) – vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Ohrwaschel

3. Landstreicher, Tunichtgut – vgl. http://umgangssprache_de.deacademic.com/19146/Plattenbruder

4. Von Anfang der Wikipedia-Eintrag https://de.wikipedia.org/wiki/Hachschara: ”Als Hachschara (hebräisch הכשרה „Vorbereitung, Tauglichmachung“) wurde die systematische Vorbereitung von Juden auf die Alija bezeichnet, d. h. für die Besiedlung Palästinas vor allem in den 1920er und 1930er Jahren. Ideologische Grundlage für dieses Programm war der Zionismus, getragen und propagiert wurde sie von der jüdischen Jugendbewegung. “