German Transcription: October 14, 1938 (?)

 
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Brunn, den 14ten X. 19[38]

Meine [sic] innigst geliebtes und treues Kinderl!

Nach langem Bangen und Harren endlich ein kräftiges Lebenszeichen von dir. Aber trotz allem bin ich und auch meine zwei Katzerln hier noch mehr besorgt als früher. Den Paß werden wir so schnell als möglich besorgen und einsenden; aber wo ist denn dein Paß, den du mitgenommen hast? Auf jeden Fall hoffe ich in Wien ein Duplikat zu ergattern. Geld überweise ich morgen, hoffentlich erhältst du auch dasselbe. Dein Brief ist etwas Herrliches, das herzerhebende Bekenntnis eines tapferen jüdischen Mädchens. Ich werde mich auch nach Palästina melden und bezüglich der Bertuschka und Lussinka deine Meinung abwarten. Denn seit letzter Zeit haben sich bei euch dort die Ereignisse scheinbar überstürzt und sind wir all auf der ganzen Welt lebenden Juden furchtbar erregt und bestürzt. Und Schuld an diesem grauenhaften Vandalismus ist nur ein Mann, dessen merkwürdiger, gelinde gesagt, dessen merkwürdiger hoher Politik aller aggressive [sic] und rauberischen Elemente in ihren Gewaltsaktionen gerade zu ermutigt. Dieser Mann ist ein großes Unglück für die ganze Welt und hat er als stark reaktionärer Schlaukopf das Feuer des Fortschritts, der Freiheit, der Demoktratisch-menschlichen Gesinnung und Gesittung um 180 Grad nach rückwärts gedreht - . . . . . . . -

“Sage mir, mit wem du gehst und ich sage dir wer du bist.” . . . .

Wir sehen auch überall die verhängnisvollen Folgen seiner dem finstersten Faschismus zustrebenden Verbrecherpolitik. Ein gewisser Chamberlain hat mit seiner Rassentheorie so eine unheilvolle Verwirrung in den dunklen Schwachköpfen angerichtet, und der andere gleichen Namens stürzt ganz Europa kopfüber in mittelalterliche Finsterheit, Haß, Intoleranz und grausamste Judenverfolgungen . . . .

Ein Land gab es, unsere Heimat, ein freies, helles Land mit einem edlen, stolzen Volke; heute ein unglückliches Jammervolk mit gebrochenen Herzen . . . .

Und ein tschechisher Minister legt in Berlin am Grab des unbekannten Soldaten eine Kranz nieder und alle unsere Hoffnungen sind auch mitbegraben . . . . . . .

Sudetendeutsche Legionäre ziehen in die geräubten Länder ein, schlagen mit Brechstangen und Gewehrkoblen, schlagen alle jüdischen Geschäfte ein, rauben alles aus, also “erraubern” fremdes Land und Gut, plündern alles jüdische Vermögen bis aufs Letzte aus, bedrohen

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Juden und Tschechen, wenn sie ein Wort tschechisch zu reden wagen, mit ihren blutgetränkten Bayonetten. Nachdem jüdisches Gut und Vermögen geraubt und verschleppt worden ist, komt die reguläre “Feldenarmee”, stellt die Ordnung wieder her und überläßt unsere dort noch zurückgebliebenen unglücklichen Brüder und Schwestern der berüchtigten Gestappo und den unmenschlichen Konzentrationslagern . . . Also: Bluff, List, Betrug, Gewalt brutalster Art, das nennt man [höhere??] Politik, das heißt Realpolitik. Jetzt erst verstehe ich was der Weise spricht: (Faust) “Wenn Diplomaten beraten, da weinen die Völker.” Aber was für Diplomaten?: Gewissenslose, herzlose, die über Leichen gehen, reaktionäre, die mit einem verbrecherischen Ruck das Feuer um 180° nach rückwärts drehen und mit einem Federstriche ganze Länder und Tausende von Existenzen vernichten. -

Wir hiesigen Emigranten und Repatrianten weinen und fühlen mit diesem herrlichen Tschechischen Volke, mit ihrem gebrochenen Herzen, bedauern aufs Tiefste das Schicksal dieser Heldenarmen, die eine ganze Welt hätte zerschlagen können und nun verworfen durch das Diktat einer finstere Clique, verzweifelt und verbittert zurückblickt und ohnmächtig gestehen muß, wie ihr Vaterland, das sie zu verteidigen, jauchzend auszogen, jetzt ein [...??...] unersättlicher Aasgeier wird. . . . .

England und seine Lordshäfte sowie die reaktionären Kreise Frankreichs haben törichterweise dem Hitlerfaschismus die Wege geebnet, der doch eigentlich nichts anderes anstrebt als die Vorherrschaft des deutschen Imperialismus, die von Junkern und deutschen Finanzmagnaten aufgerichtete [graus...??] Fremdherrschaft über Europa mit seiner Gewaltpolitik und brutalsten Judenpogrommen. Und diese sich allerorts sich vollziehende Versklavung sucht man hinter Nebelschwaden nationalistischer Frasen und hinter der Maske sogenannter “nationaler Einigung” zu verstecken und zu verbergen. Bei dieser reaktionären und finster-mittelalterlichen Politik haben wir Juden hier in Europa nichts mehr verloren und müssen ein Land suchen, wo wir als freie und ebenbürtige, gliechberechtigte Bürger leben und schaffen können. Darum ist euer heldenmutiger Kampf um die Befreiung Palästinas und ihr endgültiger Sieg nicht hoch genug anzuschätzen [sic] und bedeutet heute der Zionsstern den einzigen Hoffnungsstern aller tapferen und echten kampfentschlossenen Juden. . . .

Das ganze Volk hier ist empört über den schnöden Verrat gewisser engl. Lords. Und diese furchtbar verzweifelte Stimmung wird noch obendrein von skruppellosen [sic] aus- und inländischen Kreisen ausgenützt, um falsche Gerüchte in die Menge zu lancieren, welche in ihrer überstürzten Suche nach Ursachen ihrer “schmählichen” Niederlage ohne “Kampf” jede kopflos-hingeworfene Losung aufnimmt. “Der Jud' ist schuld”, ertönt es allenthalben und auch hier beginnt sich eine für unsere braven Volksgenossen unheilvolle Metamorphose aus einem ideal-demoktratischen in ein reaktionär-faschistisches Land zu vollziehen . . . .

Darum ist es um so [sic] mehr zu begrüßen und nicht genug hoch einzuschätzen, daß

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ihr Jungen und Mädchen dort kämpft für eine glückliche Zukunft. . . . .

Auch hier strömt bereits die Jungend zu den Betherim, um euch zur Hilfe zu eilen....

Zur faschistischen Praxis gehört der Vertragsbruch; und so sieht auch die internationale Politik der bürgerlichen [...??...] aus, die den Vertragsbrechern praktische Zugeständnisse machen. So kommt es auch, daß gewisse “Gragos” [??] Verträge als einen “Fetzen Papier” angesehen. Darum taucht auch in den hiesigen zionistischen Kreisen besorgniserregend die bange Frage auf: Wird Chamberlain und seine faschistisch-reaktionäre Clique die “Balfour Deklaration” respektieren oder wird er dort so feige und finster vorgehen, so unglücklich manövrieren wie hier in Mitteleuropa???

Nun aber genug mit meinem Politikum und zurück zum eigenlichen Privatissimum. Zunächst zu unserer jüngsten: Dank der Vermittlung einer gewissen Frau Schrutka, der Leiterin von Berta's Mädchenheim, hat Lußinka sehr schnell Beschäftigung gefunden. Sie ist nämlich bei einem älteren Ehepaar namens Gansl (rinnt dir bei diesem Wort nicht das Wasser im Munde zusammen?), welches zu den hiesigen Patriziern zählt, früh und [sic] vormittags hilft sie in der Wirtschaft mit und nachmittags arbeitet sie im Teegeschäft. Die alte, jugendlich heitere, mütterlich gütige, sehr kluge, brave und intelligente Frau ist bisher mit unserem “kleinen” Katzerl sehr zufrieden und gibt ihr außer prachtvollem Logis und reichlicher Kost einen Gehalt von 100 kč mntl, was für hiesige Verhältnisse nicht wenig ist. Lußinka hat viel zu tun, aber in ihrer “Arbeit ist Segen”. Stell dir nur vor und staune: Infolge der regelmäßigen Beschäftigung, des Früh-Aufstehens (½ 6h), des zeitlichen Schlafengehens und der ausgiebigen “Spaziergänge” hat unsere Kleine so einen russischen Bärenapetitt [sic] bekomen, daß sie trotz guter Rate und reichlicher Zubesserung [sic] von meiner Seite nicht genug essen kriegen kann. Die Folge davon ein bedeutend gesünderes Aussehen als in Wien, bereits völlig eingestelltes Husten, das doch unsere goldige Zinke [P...??..] immer so aufregte. Bei so einem unberufen gesegnetem Apetitt [sic] dürfen sich die im Wachstum zurückgebliebenen, schwachen Lungen bald aufs Kräftigste erholen und auch die damit verbundene Blutarmut in absehbarer Zeit [...??...] haben sein. Selbstverständlich habe ich von dieser wundervollen Veränderung nachhause berichtet und wird das wieder einmal ein Glücksstrahl bei unseren Teuren in Wien sein, die ohnedies nur immer Finsteres und Düster-Trauriges mitmachen müssen. . . . . . .

Lußinka [macht??] sich langsam zur dickwangigen “Akulinka” heraus und ebenso schön


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und fesch ist unsere zweite “Künstlerin”. Bertuschka macht schön Fortschritte in ihrem Gewerbe, besonders liebevoll frisiert sie ihre kleine Schwester, der diese Friseur sehr zur [...??...] steht. Auf meine Initiative geht Bertuschka in ihrer freien Zeit zu Privatkunden, und [...??...] sehen, dass sie sich so vervollkomnet und einarbeitet, verdient sie sich schon ein wenig Taschengeld. Freilich muss ich auch ihr zubessern und belastet sie mein ohnedies so knappes [Budget??] ganz gehörig. Das weißt du doch daß Bertuschka nicht zu den bescheidensten Naturen gehört. . . . aber sie ist sehr charaktervoll, würdevoll, stolz, klug und ein sehr gutes Kind. Auch ist sie seit letzter Zeit nicht mehr so [borkig??], so widerspenstig wie bisher und hat auch ihre ungebrochene Lebensfreude und Vergnügungen durch den hiesigen politischen scharfen Einschwung und durch noch ein persönliches “Mißgeschick” einen leisen Dämpfer bekommen. Auch Bertuschka ist sehr fleißig, muß sich plagen und denkt sehr viel an dich, da sie mit ihren heranreisenden [??] klugen und klaren [Mädchen...??] so eine Prachtschwester wie dich allmählig erfassen und begreifen lernt. Allerdings könnte sie ein bisserl fleißiger im Schreiben sein.

Nun etwas von meiner Wenigkeit. Du kannst doch aus obigem entnehmen, daß ich mit meinem Pracht-Dreimädchenhaus sehr, sehr glücklich bin. Ich habe dasselbe so schön, so warm und wohlig in mein Herzerl eingebaut, daß mir kein Unbill von außen her, keine Entbehrung, keine solche Erschütterung etwas anhaben kann. . . .

Ich stehe zeitlich auf, mache meine obligaten Turnübungen, frühstücke, dank einer “[...??...] Tee “recht gut und nahrhaft, fülle den Tag ziemlich schön aus und schlafe recht gut bei offenem Fenster. Meine Behausung ist recht klein, dafür aber ist der ganze Tag das Fenster offen, also gleichsam eine Fortsetzung und Verlängerung der [festen??] Wände auf die Gasse hinaus. Ich korrespondiere recht fleißig mit meinen Teueren in Wien und sende dir auch jeweilig die Briefe deiner herrlichen Tante ein. Auch hier habe ich eine holde Frau wieder gefunden, welche ich sehr, sehr verehre und schätze ob ihrer gründlichen Güte und tiefe edelseeligen Seele. Auch ist sie zu deinen Schwestern wie eine Mutter; sie heißt Therese Spitz und ist glückliche Mutter eines Prachtjungens und Gattin eines sehr intelligenten, vornehmen Mannes. Auch dieser edelste Mensch trägt viel zu meinem inneren Glück bei und beschwingt meine Seele zu manch lyrischem Erguss. . . . .

Sende dir 3 Wertzeichen ein. Bitte hast du meine Briefe sowie Wertzeichen erhalten, welche ich vorigen Monat durch eine gewisse Frau Jellinek dir sandte. Sie wahrt angeblich in deiner Nähe. Auch eine gewisser Herr Brandt-Bethar wird dich gleich nach seiner Ankunft [aufpupen??]. Er fährt Montag den 24 X. zu [...??...]

Was ist mit Paul???

[side of p.1] Es küßt dich innigst dein ewig treuer Papa Hugo.

[side of p. 4] Bitte schreibe sofort, was du brauchst, Geld oder Sachen, ich sende sofort alles [Mögliche?].

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Transcribed from Hugo Jellinek's old German/Sütterlin handwriting by Laura Jockusch and Brian Middleton.

 

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