German Transcription: November 24, 1938

 
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Brunn, den 24ten XI 19581

Mein teueres Kind!

Du hast mir mit deinem letzten Briefe eine glückliche Stunde verschafft. Auch Lußinka und Bertuschka haben über ihren Brief eine große Freude gehabt. Inzwischen haben wir dir Gewünschtes geschickt: Schuhe, Kleid, gestricktes Westerl, Wäsche, Kopfpolster, Socken, Handschuhe, Pyjamahose und etwas Naschwerk. Auch Frau Spitz, unsere beste und edelste Freundin und Gönnerin, hat auch Chokolade zugelegt, doch fürchte ich, daß das Brieferl dieser liebenswürdigen Frau heraus- genommen werden dürfte; oder hat das nichts zur Sache2? Hoffentlich! Bitte mir sofort den Empfang zu bestätigen. Hier gibt es nichts Neues. Daß die Herren Tschechen und Slowaken gelehrige Schüler Adolf Hitlers sind, dürfte dir doch auch bekannt sein: Es ist ja bedeutend leichter, aus Menschen Bestien zu machen als umgekehrt3 . . . . . Und ausrauben, plündern, töten. . . , das ist ja die neueste Devise der mitteleuropäischen bürgerlichen Gesellschaft. Als Schiller die ,,Räuber“4 verfaßte, konnte er allerdings nicht ahnen, daß das Motto: ,,Brennen, morden, rauben, balgen, heißt bei uns nur Zeit verstreuen, Morgen hängen wir am Galgen, drum laßt uns heut' lustig sein . . . [“]5 zum Leitmotiv der vertierten deutschen Nationen und aller ihr angeschlossenen und geführten Völker werden wird . . . . . . . . . . .



Ein Lichtblick, daß Amerika und England ihre sittliche Entrüstung über diese verbrecherischen Vorgänge in Deutschland in alle Welt hinausschreien und diese Gangster und verschiedene Kompagnone7 entsprechend charakterisieren. — Aber einstweilen haben wir hier einen neuen Präsidenten: Dr. Hagel, Nomen est omen – pardon: Hacha8, also doch günstiger; dürfte, wie man allgemein hört, ein sehr objektiver und bedeutender Jurist sein. Inzwischen hat sich eine Erleichterung in der Lage der aus dem von Hitler besetztem Gebiete geflohenen Juden insofern ergeben, daß dieselben für Č. Sl.9 optieren dürfen. Also welch ein Glück, daß eine Tschechischer Staatsbürger für die Č. Sl optieren darf!? Vielleicht wird auch die rechtliche Stellung der Repatrianten10, wozu auch ich gehöre, irgendwie geregelt werden, hoffentlich in günstigem Sinne. Inzwischen läßt sich nichts unternehmen, denn die Wenigen, welche bereits Posten hatten, mußten diesen sofort verlassen. Also heißt es, einstweilen abwarten. Freilich habe ich Sorgen bezüglich der Zukunft, denn Ausgaben gibt es genug, denn ich muß ja



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II.
Bertuschka und der Lußinka zubessern, da sie beide doch im Wachsen sind und besonders Lußinka unberufen so einen gesegneten Apetitt hat, daß man nicht genug bringen kann. Dabei hat sie bei ihren Herrenleuten eine sehr gute und ausgiebige Kost, sie ist sehr brav und klug, deshalb auch sehr beliebt und freut sich alles über ihr prächtiges Aussehen. Nie im Leben hat sie so gut ausgesehen und wird sich Tante Gisinka sehr freuen, wenn Lußinka Weihnachten sich verabschieden fährt. - Auch Bertuschka ist brav und ein gutes Kind, eine gute, treue Schwester, nur könnte sie in gewisser Hinsicht hemmungsvoller sein . . .


Auch verdient sie schon 100 kč11 mntl.12 durch Pfuschen13 und vervollkomnet sie sich auf diese Weise, verbindet also das Angenehme mit dem Nützlichen. Mir geht es dank der seltensten aller Frauen sehr gut und habe ich schon einige Kilo zugenommen; nur weiß ich nicht, wie ich mich revanchieren werde. Auch in Lußinka ist diese edle Dame und mitfühlende herrliche Jüdin verliebt, und sendet ihr täglich feine Mehlspeisen. Auch Bertha hat sehr viel Gutes von ihr, und ist ihr Frau Spitz wie eine Mutter. Leider läßt sich Berta nichts sagen und ist oft sehr unkorrekt so daß sie sich und mir schon viel geschadet hat. Ich möchte dich bitten, der Bertha persönlich einen ausführlichen Brief zu schreiben: Adresse: B.J. Brünn, Stepanskaja 4A, Tür 4 Stock, bei Herrn Klonbuk. - Bitte sie auch zu veranlassen, sich bei den hies. Bethars14 einschreiben zu lassen. Diese Tage giengen von hier 400 fromme Jungen und Mädels (Bethar) ab. Leider wurden sie auf dem Wege durch die Slowakei von den Hlinka-Banditen15 überfallen und ausgeraubt - darunter leider auch die Anny, die Tochter von Kogus, die erst vorige Woche geheiratet hat und von ihrem Mann einen sehr wertvollen Brillantring erhalten hat. Auch der ganze übrige Schmuck wurde den meisten weggenommen. Auch Ruthie, die zweite Tochter von Kogus ist mitgefahren. Wenn du kannst, gehe ihnen an die Hand. [Sie] werden hoffentlich zu dir kommen. von Küssen, dein glücklicher

Papsi Hugo

[p. 2 left margin:] Wenn Paul ankommt, bitte sofort her berichten Viele herzl.[iche] Grüße von andern

[p. 2 right margin:] Ich bin gesund und arbeite hier sehr fest für die Jabotinsky-Idee16 - Kampf um Zahlen und Frieden.

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Transcription by Brian Middleton, edited by Brigitte Balkow and Barbara Sommerschuh of Sütterlinstube, Hamburg Germany

1. es steht geschrieben 1958, gemeint ist aber 1938.

2. i. A. entweder: ‘tut nichts zur Sache’ oder ‘hat nichts zu sagen’

3. Zitat aus ‘Des Herrn von Montesquiou Werk von den Gesetzen’ 1753, online bei https://books.google.de

4. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_R%C3%A4uber

5. Zitat abgeändert - vgl. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3339/21

6. zum Tier gewordenen - siehe http://www.duden.de/rechtschreibung/vertiert

7. richtig wäre Kompagnons - siehe http://www.duden.de/rechtschreibung/Kompagnon

8. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Emil_H%C3%A1cha, Hácha wurde am 30. 11.1938 zum Präsidenten gewählt.

9. vermutl. Česko-Slovenská Republika, Č-SR - vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tschecho-Slowakische_Republik

10. Menschen, die in ihre Heimat zurückgeführt werden - vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Repatrianten

11. Koruna československá - Tschechoslowakische Krone - vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tschechoslowakische_Krone

12. monatlich

13. österreichisch für schwarzarbeiten - vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/pfuschen#Bedeutung1b

14. zionistische Jugendorganisation - vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Betar

15. Hlinka-Garde, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Hlinka-Garde

16. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Zeev_Jabotinsky

 

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