German Transcription: July 10, 1939

 

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2. Scheine

Mein tapferes Mäderl! Reichsdeutsche Stadt Brünn,

den 10ten VII. 1939.

Überraschend schnell kam Dein hoch-interessanter Brief; ich
glaube, denselben trotz seines geheimnisvollen Inhaltes
richtig verstanden zu haben. Auch wollte ich Deinen fesseln-
den Bericht dem hiesigen Betharistenführer1, dem Bruder
der Tante Irma, zeigen, doch ist der arme Teufel seit
zwei Wochen in einem staatlichen Sanatorium interniert ...
Ich hoffe aber, daß Herr Leo in Bälde zu seiner um ihn sehr
bangenden, unglücklichen Mama kommen wird. Auch harrt
seiner noch viel Arbeit, denn er muß noch 100 junge,
aber echte Bethars für den bald abgehenden Transport
registrieren. Ebenso soll gegen den 25ten3 dieses [Monats] ein
größerer illegaler Transport (600) abgehen, auch erst-
klassiges Material, jedoch von dem berüchtigten Herrn
Flesch zusammengestellt, der sich aber rechtzeitig dem
Zugriffe der Behörden entzog. Es heißt nämlich, daß dieser
saubere Herr das Landungsgeld nicht bezahlt hat und daß
deshalb die letzten Einwanderer so lange in Athen, Kreta

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und, Gott weiß, wo sonst wo, wie die “fliegenden Holländer”
herumirren mußten und dabei viel Not und Elend
erlitten. Hier und dort ist es ein schwerer Fluch, der auf
unserem schwer geprüften Volke lastet. Den “fliegenden
Holländer” aber hat Senta2 mit ihre[r] Selbstaufopferung
erlöst, unser Volk jedoch kann sein jüdisches Schicksal
nur allein meistern – Ohne jeden verständlichen Grund
aus seinen derzeitigen Domizilien3 grausam vertrieben,
entblößt aller notdürftigen Mittel, sucht das ewige
Märtyrervolk die einzig richtige Heimat –
Und hier nun setzt die furchtbarste Tragik ein: Auch
dorthin läßt man uns nicht ohne weiters hienein ...
Das Bitterste aber dabei ist noch, daß wir selbst von
einem Teil der Schuld daran nicht freizusprechen sind.
Denn vor 40 Jahren, als der geniale Moses des 20ten
Jahrhundert[s], Th unser unsterblicher Theodor Herzl, sein
Volk aufrief, sich nicht einer gedankenlosen, trügeri-
schen Assimilation hinzugeben, sich nicht von der

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demokratisch-liberalen Aera über unseredie gefährlich-
hoffnungsvolle Situation eines “Volkes ohne eigenen
Boden”, also auf die Gnade ihrer “Wirtsvölker” ange-
wiesenen, hinwegzutäuschen zu lassen, da reagierte
unser Volk und an ihrerseiner Spitze die Protestrabbiner
und dergleichen kurzzichtiges5 Pack mehr in ver-
hängnisvollster Weise. Aber nie ist es zu spät und
wo ein Wille, da ist auch ein Weg. –
Auch hier ist wiederum, nachdem seit gestern Hackenkreuz6-
fähnchen lustig auf der Tramway7 wehen (für uns Juden
nur die erste Hälfte) die Palästina-Welle mächtig angeschwollen.
Ob es aber möglich sein wird, das wissen nur die Götter;
und das sind jetzt die Staatsmänner verschiedener Länder.
Ich für meine Person halte die baldige Zukunft vollgeladen
mit allen verheerenden Explosivstoffen – – – –
“Und niemand sah ich glücklich enden,
auf den mit immervollen Händen
die Götter (Chamberlain, Daladier) ihre Gaben streu'n8...

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Du wirst mich doch hoffentlich verstehen. Übrigens herrscht
nirgends so sehr das ethische Prinzip wie in der Geschichte,
wo es sich im Lauf der Jahr-Tausende immer wieder und
wieder zeigte, daß alles auf Gewalt, Verbrechen, Lüge
und Betrug Aufgebaute früher oder später zusammen-
brechen muß. – Der Historiker beurteilt alles “a priori”,
sitzt still-heiter an seinem Fensterl, von welchem aus
er in die scheinbar verrückte Welt hienausblickt9 und
lächelt behaglich-kluge vor sich hin, wenn sich die Er-
eignisse in schicksalsbedingter Zwangsläufigkeit
tragisch abrollen – – – – sowie er es sich vorgestellt.
Selbstverständlich wäre ich auch schon glücklich, wenn
ich und meine drei Katzerl bei Dir wären –
Wieso drei? Damit meine ich nämlich auch meine
Braut – Ich habe mich in diesen Tagen mit der
herzensguten und edlen, frommen Jüdin, Fritzi
Fränkel, im geheimen verlobt. Du bist auf der
ganzen Welt die erste und die einzige, welche davon
erfährt – Bertuschka und Lußinka etwas später –

 

Transcription by Brigitte Balkow and Ursula Eckelmann of Sütterlinstube, Hamburg, Germany, of Letter from Hugo Jellinek, in Brunn, Czechoslovakia, to Gisela Nadja Jellinek, in Rishon Le Zion, British Mandate Palestine, July 10, 1939

Footnotes

1. Betar, zionistische Jugendorganisation – vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Betar

2. Frauenfigur aus der Oper von R. Wagner – vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_fliegende_Holl%C3%A4nder

3. Domizilen

4. hinein

5. kurzsichtigstes

6. Hakenkreuz-

7. Straßenbahn

8. Friedrich von Schiller, Ring des Polykrates – vgl. http://www.literaturwelt.com/werke/schiller/polykrates.html

9. hinausblickt