July 26, 1938

 

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Brünn, den 26. xx xxxx

Meine teure Gisuschka!
Habe Dein Mißgeschick erfahren, aber Gott sei Dank bist Du gesund
und heil am Ziele angelangt. Ich bin überglücklich daß Du Dich dort
wohl fühlst und ich bitte Dich nur, meine Verhaltungsmaßregeln bezgl.
Wasser trinken, nur Gekochtes, reiner Hände, sorgfältiges Aufbewahren
der Speisevorräte, Vorsicht im Obstgenuß u. s. w. ja zu beherzigen –
Ich hoffe von Dir bald ausführlichen Bericht zu erhalten; diesen Brief sende ich
dann meinen Unglücklichen nach Bandit-Germania ein, denn sie haben
ja auch mir Deinen ersten, sehr interessanten Bericht eingeschickt. Nun zu mir.
Vor 6 Wochen, an ein und demselben denkwürdigen Tage, fuhren wir
Beide unserer neuen Heimat entgegen; wir fuhren zwar in verschiedene
Länder, aber unsere Herzen sind unzertrennbar, für alle Ewigkeiten mit-
einander verbunden und in paar Jahren bin ich bei Dir, sowie auch Deine
beiden Schwestern – Aber davon später; zunächst etwas von mir. Es war von
mir ein Fehler, daß ich mein ganzes Geld zurückließ und nur 250 Kronen
mitnahm, die man mir in Böhmen abnahm, weil zwei Hundert Banknoten
darüber waren – Nun inzwischen habe ich das Geld schon wieder zurückerhalten.
Auch habe ich den Auftrag gegeben, von Hofmann – Hollabrunn Geld für
die noch schuldige Komissionsware einzukassieren (700-900 Shill.) und nach-
dem Willy [Onkel Oskars Sohn] 15 RM, das ist beiläufig 22 [Kronen?]
zn nach Dachau zu senden – Hier zahlt mir Oskar diese Summe mit zin-
seszinsen zurück, so daß ich einstweilen sorgenfrei leben kann. Bevor ich
fortfahre, will ich nur darauf hinweisen, daß es von Onkel Oskars Edelsinn
und Großherzigkeit zeigt, wenn er nach all dem Vorgefallenen, nach
all den furchtbaren Szenen seinerzeit in Wien – wie Dir doch bekannt sein
dürfte – nichts unversucht läßt, um sein Kind, wenn auch ein “verlorener
Sohn”, aus der Hölle von Dachau zu retten oder wenigstens durch re-
gelmäßige, wöchentliche Zuwendungen seine triste Lage irgendwie zu er-
leichtern – Hoffentlich revidiert Willy sein bisheriges Benehmen seinem
wenn auch etwas meschugge-unkultivierten Naturpapa gegenüber
und lernt verstehen, daß sein Vater einer der vornehmsten Menschen
mit einem Seelenadel ist, wie er selten unter uns Juden zu finden ist.
Ebenso nobel und nicht nachträglich hat sich Onkel Oskar seiner Frau gegenüber
benommen, die wie Dir doch auch bekannt sein dürfte, ihren eigenen Mann mit
der Polizei aus seinem eigenen Kaffeehause seinerzeit hinausweisen ließ,
welche Infamie ihr eine Ohrfeige von ihrem temperamentvollen Manne
eintrug. Selbstverständlich klagte ihn diese niederträchtige, rachsüchtige
Fr und undankbare Intrigantin. Es kam aber zu keiner Verhandlung,

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[Seite II. / Rückseite der Seite I.]

ob es das Schicksal anders gewollt und diese furchtbare Gottesgericht
über uns arme Juden herein gebrochen ist. Man soll also nie im
Leben sich von solchen teuflisch-dämonischen Lastern, wie
Haß, Rachsucht, Eigennützigkeit, Herrschsucht, Lüge u. dgl. mehr
leiten lassen, denn sie führen sein verführtes Opfer zwangsläufig
ins Verderben – Und wenn Tante Berta nach ihrer abenteuerlichen
und sehr sp strapaziösen Flucht trotz allem Vorgefallenen von Onkel
Oskar so vornehm und zartfühlend aufgenommen wurde, als ob eben
gar nichts vorhergegangen wäre, dann hat sie dieses unverdiente
Glück eben nur diesem Gentlemann – Aristokraten an Seele
zu verdanken. Und sei versichert, daß sie ihm sehr viel Geld hier kostet,
da er selbe völlig neu und elegant ausstattete und ferner für ihr Auskommen
sorgt. Dafür aber hat Emma die “Rachegöttin” gespiel[t] und ihr den wenn auch
kurzen Aufenthalt dort um so gründlicher verleidet. Ich brauche Dir doch nicht
erst zu schildern, wer Emma ist, nur auf eines möchte ich gelegentlich hinweisen
daß Berta drei Monate von diesem “Satana” zur Verzweiflung getrieben
wurde; weiß Gott, ob Bertuschka diese unausgesetzten Gemeinheiten,
Intrigen, Lügen, Ordinärheiten, Indiskretionen von diesem
pathologischen Tr Khille[?]-Tratschen noch lange hätte ertragen
können – Zum Glücke fuhr ich sofort hieher und erwirkte in aller Ruhe
die Übersiedlung ins Mädchenheim, fast umsonst, wo wir doch für Bertuschka
monatlich 350 kč zahlen, was doch in Anbetracht eines Massenquartieres
und einer nicht besonderen Kost nicht schlecht bezahlt ist – Auch ich habe für mein
Wanzen-Bett mntl. 90 kč bei ihr gezahlt und bin auch seit einer Woche
in einem neuen Kabinette für welche ich mit Licht nur 100. kč zahle, dafür
aber ganz allein wohne, Tag und Nacht studieren kann, mich herrlich und
ungestört pflegen und gymnastisch betätigen kann – Ich habe es ja, abge-
sehen von den vielen Unbequemlichkeiten, die letzte Zeiten nicht mehr dort
aushalten können, so arrogant, boshaft und gemein waren beide, ja
beide zu mit – Und wenn schon ich als erwachsener, intelligenter Mensch, der
doch sicherlich nicht auf den Mund gefallen ist, mich dieser vielen Gemeinheiten
und Pöbeleien h nicht wehren konnte, wie hätte da unser armes Tschoperl [?]
dieser Megira und ihrem Ochsen von einem Manne ankommen können?
Ich kann also meinem Kousin Arthur nicht genug dankbar sein für
seine seinerzeitigen Bemühungen. Ich wohne also in einem kleinwunzigen
leider aber auch großwanzigen Kabinette, aus welchem ich direkt in die
“Liga” hinübersehen mit all‘ dem Gewimmel von tgl. frisch ankommenden Emigranten.

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III.

Die “Liga” nämlich ist eine Hilfszentrale hier, welche für alle die
vielen Flüchtlinge aus Deutschland und Öster[r]eich, ohne Unterschied des
Geschlechtes und der Nation - es kommen nämlich auch ziemlich
Christen (und sogar ein Neger mit Familie) - aufs beste für Quartier
und Recht sorgt - Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn
aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Goering nicht gelingen,
dass die Emigranten in der Gosse krepi[e]ren. Ich wäre überglücklich
[we]nn Siegfried oder Onkel Poldi, Miron herkämen, denn die leben
[xxx]rt bei diesen ganz gemeinen Räubern und Gangstern in einem
Schrecken, in einer panischen Angst, verhaftet und ins Konzentrations-
lager nach dem berüchtigten Dachau verschickt zu werden. Übrigens
dürftest Du doch über die qualvolle Lage der Juden im Bilde sein.
Und dieses Unglück, welches jetzt so elementar-wuchtig über unsere
[a]rmen Voksgenossen hereingebrochen ist, kann sich jederzeit und
[a]llerorten wiederholen, wenn wir Juden nicht, an eine wieder
einmal an einer Schicksalswende stehend, den Fingerzeig Gottes
verstehen und unser Schicksal fest und energisch schmieden, indem
wir vor allem ein eigenes Land uns erkämpfen, wenn es
auch noch so klein - Es wird schon größer werden, aber
zuerst müssen solche Strolche und Faschisten, wie Mussolini,
Hitler vom Erdboden verschwinden, dann wird England
leicht Herr über Araber-Banditen und wird sicher einmal
uns als verläßlichem, loyalem Volke da soviel
Land zuweisen in Palästina, als wir für den Aufbau eines
starken Staates benötigen werden.

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[Auf der Vorderseite des Kalenderblattes/Rückseite der Seite III.]


[im linken Rand:] In Österreich geht es furchtbar zu und werden alle Juden ausgeraubt


[in unteren Rand:] Aber es wird für alle gesorgt werden.


[in rechten Rand:] Hast Du Bil[der ?]xxx?

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IV.

Wir Juden haben vor 46 Jahren den Ruf Herzls nicht hören wollen und heute stehen wir wieder
vor einer Schicksalswende, hoffentlich ersteht wieder eine genialer Führer, der in dieser schweren
Zeit einen richtigen Ausweg findet. - Nun zurück zu mir - Bis auf Nervenschwäche fühle ich mich
wohl; die Müdigkeit, die Mattigkeit dürfte auf mangelhafte Nahrung zurückführen
sein. Aber es wird auch dieser Mangel bald beseitigt sein - Die Zeit vergeht mir wie im Fluge,
da ich viel lese und 3 - 4 Stunden tgl. dem Studium der tschech. Sprache widme. Dann
gehe ich zum Freitisch. Das Essen könnte im Verhältnisse zu den aufgebrachten
Mitteln besser sein, aber wenn man nicht verwöhnt ist und sparen muß, dann
ist man auch mit so einer Kost zufrieden. - Freilich muß man sich zubessern. -
Bertuschka speist auch dort, doch ißt sie dort sehr wenig, so daß sie sich zubessern muß. -
Sie ist auch mit ihrem Chef nicht zufrieden, der sich bisher anfangs ganz anständig
zeigte, seit letzter Zeit aber ganz von seiner ordinären, antisemitischen Frau (Henlein [?])
ins Schlepptau geriet und so Bertuschka einen schweren Standpunkt hat. - Bertuschka ist
ein sehr gutes Kind, ein schöner, geradliniger, aufrechter Charakter, aber es
ärgert mich genug oft, wenn sie zuweil die sozialistischen Herrengesellschaften
aufsucht. Allerdings ist das alles ganz harmlos, aber es ist nicht gut, wenn sich ein
besseres Judenmädchen zu viel mit Sozialismus, noch dazu radikal-linksgerichtetem,
beschäftigt und zu viel in solchen extremen Gesellschaften verkehrt. - Brünn ist ja
ein großes Tratschnest und einen schlechten Ruf hat man bald. - Obendrein sorgt
schon „Tante Emma” dafür, daß Bertuschka in Verruf kommt, damit ja nicht von
einem ihrer Brüder ihr vielleicht eine Aufmerksamkeit erwiesen wird. Es wäre nicht schlecht,
wenn Du ihr vielleicht einen Brief schreibst, in welchem Du in begeisterten Farben
das dortige Leben und Treiben schilderst und ihr Lust machst, zu Dir oder irgenwo
in Deine Nähe zu kommen. - Vielleicht gelingt es Dir, für Deine Schwester die Einreise
zu erwirken, denn es freut sie nicht besonders ihr Beruf, besonders unter solchen Herrn.
Dessen ungeachtet werde ich sie veranlassen, schon jetzt privat zu arbeiten, ein bischen
einzudrehen, ein bischen maniküren, denn so bekommt sie Übung und verdient nebstbei
ein bischen. - Auch wird sie dann nicht immer auf Dummheiten denken und mehr den
Wert des Geldes verstehen lernen. Von Lußinka habe ich dieser Tage einen
herzerweichenden Brief erhalten, in welchem sie mich um alles auf der Welt beschwört


[Seite IV. im linken Rand:]
Berta ist vom Rad gestürzt und kann nicht schreiben - Nächste Woche dürfte sie schon wieder arbeiten.


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V.

sie nach Brünn zu sich zu nehmen. - Weiß Gott was da wieder einmal zuhause
vorgefallen ist; bei so unberechenbaren Temperamenten, wie Großpapa und Tante
Gisa ist, kann ma selbst der geduldigste Mensch in Verzweiflung geraten. - Und
dieser Brief ist auch einer ganz verzweifelten Stimmung entsprungen und dürfte
hinter dem Rücken der Tante Gisa abgeschick[t] worden sein. - Selbstverständlich habe
ich sofort ihre Abreise aus Hollabrunn angeordnet und alles eingeleitet, daß
sie ohne weiters hieher kommen kann. - Entweder kommt sie ins Mädchenheim,
wahrscheinlich aber wird sie als intelligentes, hübsches und feines Mädchen gleich
eine Stelle als Erzieherin oder Kindermädchen finden. - Oder in einen Kibbuz und
dann auch zu Dir. - Wenn dann alle meine Kinder mit Gottes Hilfe in Palästina
sind, komme auch ich hinunter. - Bertuschka ist in der Fremde sehr gereist, recht klug, hat
einen gesunden Menschenverstand und ist auch wegen ihrer Bescheidenheit bei den Kundschaften
recht beliebt, leider aber auch bei den vielen jungen Leuten ihrer Bekantschaft. -
Vielleicht auch, weil sie nicht arrogant und stolz ist - da ist schon Lußinka viel
eingebildeter und selbstbewußter, was wieder mit dem Milieu zusammenhängt,
in welchem beide aufgewachsen sind. Also wenn Lußinka hier ist, schreiben wir Dir
sofort von ihren Erfolgen. - Ich selbst wohne: Na Ponavce1 26 bei Familie Bondy -
Wohne bei lieben Leuten und habe mich wieder sozusagen „gefunden”, nachdem ich im früheren
Massenquartier ganz „aus den Fugen geraten”. Ich lerne fleißig, lese, memoiriere,
vergesse aber auch nicht, mich um einen Verdienst umzuschauen. - Ich habe schon eine
edle und hochherzige Freundin gefunden, eine sehr kluge Geschäftsfrau, leider
ist sie verheiratet, aber dessen ungeachtet wird sie mir schon irgend eine gute
Idee geben oder irgend welche Anregungen. - Freitag abends besuche ich, manchmal
auch mit Berterl den Gottesdienst, der hier einfach entzückend ist - Der hiesige Oberkantor
nämlich ist ein herrlicher Sänger, Helde strahlender Heldentenor, Künstler
und wenn er mehr „Chasen” wäre, nicht so sehr Sänger, so würde er das Vollendeste
darstellen, was je in einem Tempel geleistet wurde. - Sein Vortrag wird mir
jedesmal zum Erlebnisse. - Onkel Oskar ist leider schwer krank und
kuriert sich nicht aus, (auch ein „Schegan” von ihm) Also, mein Golderl, schreibe
mir bald, ausführlich und schreibe auch, wenn Du was brauchen solltest -
Bitte, Bitte, lasse es Dir recht gut gehen und sei vorsichtig, in jeder Hinsicht. -

 

Transcription of pages I.- II. by Barbara Sommerschuh of Sütterlinstube; pages III. - V. by Brian Middleton, edited by Brigitte Balkow und Ursula Eckelmann, also of Sütterlinstube, Hamburg, Germany

Footnotes

1. Hachschara – vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hachschara

2. vor