Mein inniggeliebtes Kind!
jeden Tag Geburtstag, ich erlebe fast täglich
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II Formalität genügen und Dir viel tausend Bussi auch Dein von gesund-strahlenden Zähnen strotzendes fantasiebegerbtes Zuckergoscherl applizieren. – Nicht uninteressant sind auch Deine Berichte vom Standpunkt des Künstlers und Schriftstellers und ich möchte Dir raten ein Tagebuch anzulegen, welchem Du Deine Eindrücke, Empfindungen und Beobachtungen in Deiner reinen und schwärmerischen Art anvertrauen kannst. So manche berühmte Frau hat als Mädchen mit Tagebuch begonnen und so langsam zu künstlerischer Vollendung herange- reift. Leider hast Du wenig Zeit zu Träumen und Dichten, denn Du nimmst Deine Aufgaben sehr ernst, ja, fast möchte ich sagen, Du bist eine kleine Idealistin, anstürmend dies Geheiligte. ----
Da habe ich hier schon ein viel leichteres Leben, wenngleich die Zukunft mit pulverschwarzen Tüchern gehängt ist, wenn auch ich in tiefer-banger Sorge um meine so edlen und selten guten Angehörigen in Czerny [or “Österreich”?] bin. Furchtbar leide ich unter dem Schicksal welches den zwei seltensten Menschen, Gisa und Poldi, widerfahren. Denn sie müssen innerhalb 8 Tage Stockerau verlassen und wissen nicht wohin. Hoffentlich läßt man sie einstweilen in Hollabrunn bei den Großeltern wohnen, sonst wäre das Elend unausdenkbar. Aber so geht es allen Juden in Stockerau, das in ein Heereslager verwandelt ist. Es finden nämlich bald Manöver statt, ausgerechnet längs den Grenzen der tschecho-slowakischen Republik und deshalb braucht man in den benachbarten Garnisonen Quartier für die vielen Offiziere. Da doch der Jude in Deutschland völlig rechtlos ist und ärger als ein Hund behandelt wird, so jagt man einfach diese Unglücklichen davon und man hat Wohnungen für die „Retter Deutschlands“. Merkwürdigerweise wird Deutschland, rede III.tes Reich, von niemand bedroht, höchstens von seinen eigenen gestiefelten Horden, welche diese[s] unglückliche Land[nächste Seite]
in einen verhängnisvollen, furchtbaren Krieg hinein- „manövrieren“. Dieser Bandit Hitler sowie seine ganze Gangsterbande lassen nicht locker und wollen unbedingt die Henleindeutschen „befreien“, so wie sie seinerzeit die Deutschen Österreichs gerettet und „beglückt“ haben. Nur dürfte dieses verbrecherische Vorhaben, das ihnen das reichste Land Europas in die Klauen spielen soll, nicht so leicht gelingen wie bei Schuschnig-Österreich. Böhmen ist eine harte Nuß, an der sich diese Räuber- bande die Zähne ausbrechen werden oder sagen wir ein Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu ver- teidigen. Hier herrscht derselbe Kampfgeist und dieselbe hohe Moral wie beim spanischen Heldenvolke, welche schon zwei Jahre der vielfach überlegenen Räuberbande Francos heroischen Widerstand leistet. Dabei muß man bedenken, daß die Franco-Banditen mit Waffen, Geld und Truppen sehr von Hitler – Mussolini unterstützt werden, während die armen Republikaner fast ganz auf ihre eignen angewiesen sind. Es sind unter ihnen wahrscheinlich viele Nadjas - - - - Wir Juden werden selbstverständlich hier wie die Löwen kämpfen müssen und uns nicht so abschlachten lassen wie seinerzeit in Österreich, denn so wie so sind wir im Falle eines siegreichen Einmarsches von Hitler verloren. Zu vergönnen wäre es nur vielen von den hiesigen Protz-Juden und viele würden so ein furchtbares Strafgericht verdienen. Denn es ist empörend, wie sich die Brünner Gesellschaft gegen uns unglück- liche Emigranten benimmt, wie sie, die selbst in derselben Gefahr schweben, nur in ihrer gedankenlosen Borniertheit sich dieser nicht bewußt geworden, resp.
sie sich vor uns abschließen, ja oft sogar feindselig einstellen und ihr Herz mit Greuelmärchen über die Flüchtlinge bewappnen und erhärten, damit dieselben ja nicht irgend einer natürlichen Regung nachgeben können. Da werden unkontrollierbare Gerüchte ohne jede Kritik, ohne jede gewissenhafte Prüfung weiter kolportiert; so werden wir Armen der ärmsten zu Schwindlern, Betrügern, Hochstaplern, Verbrechern und dgl. mehr ausgeprangert, um so sein Gewissen zu töten, welches verlangt, daß sie als Glaubens- brüder und Volksgenossen uns wie ebenbürtige Brüder aufnehmen müßten und nicht uns wie „lästige Ausländer“ behandeln. Freitag Abend sind so viele reiche Juden im Tempel und keinem fällt es ein, irgend einen armen Teufel, der sich doch gewiß in Wehmut seines einstigen feierlichen Sabbathtisches erinnern durfte zu seiner reich besetzten Tafel einzuladen . Was soll man aber von einer Gemeinde verlangen, deren Rabbi ein ganz gemeiner Wucherer und Kapitalist, nicht einmal noch in seiner Predigt auf unser unsagbares physiches und seelisches Elend und immer Ver- zweifelte [?] hingewiesen hätte oder selbst mit gutem Beispiel vorangegangen wäre. Oder die beiden gut situierten Kantore; da ist unser Papa ein anderer, wahrhaftiger Jude, bei dem das Zusammen- gehörigkeitsgefühl und die Solidarität mit jedem Juden, noch dazu unverschuldet arm- und elend geworden, in Fleisch und Leute steckt.
V Aber warum sollen auch fremde Leute anders sein, wenn die eigenen Verwandten schlecht, herzlos oder teilnahmslos sind. Wenn man so betrachtet diesen Arthur, mein leiblicher Cousin, ein so hoher Beamter, der so ein herrliches Leben führt, der mit seiner ganzen Familie samt Stubenmädchen fast 2 Monate aufs Land fahren kann, geht an mir, wenn ich dort beim Freitisch esse, gefühllos vorbei, wo es doch seine Pflicht wäre mich irgendwo auf seine Rechnung essen zu lassen, wo doch die Mahlzeiten hier so billig sind. Und wenn er schon fürchten müsse, daß ich das nicht annehmen würde, so könnte er doch wenigstens den Versuch machen, mir in schonender Weise Geld anzubieten, damit ich mir meine Lage auf- bessern könne. Das ist also einer von den krassen Auswüchsen des hiesigen juds Egoismus, und seine Frau dürfte nicht besser sein oder vielleicht darf sie es nicht sein. Aber ich kann Dich versichern, daß er für seine öfteren Seitensprünge immer Geld hat und dabei kein Knicker ist. Auch die drei reichen und ständig schön verdienenden Schaferischen Cousinen sind keine guten Menschen und Verwandte, denn ich habe ihnen den Antrag gestellt, sie sollen mir hier den Gegenbetrag auszahlen, welchen ich den in Wien notleidenden Schaferischen überweisen lasse – z.B. Anna oder Tante Gisa gibt in Wien den Schaferischen 20 – 30 R.M. monatlich und die hiesigen Schaferischen zahlen mir hier als Gegenbetrag 100-150 Kronen montl. aus, unterstützen also ihre hungernden Verwandten in Wien und helfen sie mir als Cousin und Emigranten. Diese Summe spielt bei solchen Schwerverdienern fast gar keine Rolle und zeigt es von niedriger Gesinnung und Schlechtigkeit in solchen Zeiten, wo die Gefahr des Einmarschs latent ist, so eine Selbstverständlichkeit abzuschlagen. Anfangs wollten sie, daß ich jeden zweiten Tag zu ihnen essen gehe solle; ich komm allerdings ab und zu dorthin. Da sie aber so krämermäßig handeln und obendrein die jüngste, Fritzi, mir gegenüber wie einem Schnorrer benahm, indem sie weder beim Kommen noch beim Gehen sich verabschiedete, so meide ich seit einem Monat dieser Parvenus. Ähnlich verhält sich die Sache bei Rogus, wo es mein Cousin und er sowie seine Söhne sowie auch Onkel Eduard es sehr gut mit mir meinen, aber diese arroganten, in meiner Gegen- wart sich frech und flitschenhaft ihrer Mutter gegenüber benehmende Tochter mir es unmöglich machte, eine noch so gut und ehrlich gemeinte Einladung anzunehmen. Bei Bertha Fischl ist es ungemütlich und ist sie obendrein neidisch und furchtbar selbstsüchtig, sodaß ich mich auch von ihr nicht beglücken lasse und nicht einmal noch bei ihr gegessen habe. Die anderen Brüder Moritz, Josef, Richard sind zwar keine schlechte Menschen, aber sind eingebildet, teils arm und abhängig von ihren Frauen, sodaß ich auch zu diesen Herrschaften sehr selten komme. Öfters dagegen bin ich bei Emma, dem Teufel, die eigentlich kein ausgesprochenes Herz besitzt, aberfurchtbar kleinlich und berechnend ist, so daß ich nur, um sie nicht herauszufordern, ihre allerdings öfteren Einladungen annehmen muß. Sonst weiche ich ihr auch im großen Bogen aus. Ich muß aber öfters hinaufkommen, denn Oskar und Berta sind ja fast ständig dort und ich brauche doch beide, Du weißt doch, daß der liebe Großpapa meine Ware verkauft, von dem Erlös dem in Dachau schmachtenden Willy jede Woche 15 R.M. sendet und Oskar mir hier den Gegenbetrag, der ist 100 Kr. auszahlt - davon
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VI lebe ich und Bertuschka, der ich jetzt schön zubessern kann. Sie schaut auch jetzt bedeutend besser aus und wird noch hübscher, wenn sie sich mehr ausschlafen würde. Leider läßt sie sich nichts sagen und regt mich sehr oft auf. Sie vernachlässigt mich vollkommen, nicht einmal maniküren kommt sie, dagegen steckt sie trotz meines wiederholten Verbots bei den politischen Emigranten, die in einem nicht besonderen Massenquartier hausen. Diese „Freunde“ hat sie immer Zeit zu maniküren und zu pflegen. Sie kommt nur um Geld zu mir, sonst gar nie, obwohl ich vis-a-vis ihrem Frisier-Salon wohne. Auch bemühe ich mich täglich sie von dieser kommunistischer Bande abzubringen und sie ins Bethar-Lager hinüber zu ziehen - vielleicht gelingt mir dies mit Hilfe eine jungen feschen Bethars, der ihr auch so den Kopf verdrehen müßte, wie es dort ein Kommunist getan hat. Anderseits will ich keine Brachialgewalt anwenden, kein Tyrann sein und Bertuschka mit Geduld und Überredung auf den echt jüd.-nationalen Weg bringen. Man darf nicht übersehen, daß Bertuschka inzwischen ein sehr kluges und ziemlich scharf und logisch denkendes Mädchen geworden ist, welches bereits ihre „Überzeugungen“ hat und sich davon auch nicht so ohne weiteres abbringen läßt. Hier in Europa ist es allerdings begreiflich und verzeihlich, wenn sich Juden in einer ausgesprochen anti-faschistischen Einheitsfront zusammenfinden, um den grausamsten und skrupellosesten Judenverfolger der ganzen Menschheit Hitler – Streicher erfolgreich bekämpfen zu können. Aber unverständlich und unverzeihlich ist es, wenn man nach Palästina so artfremde Ideologien einschleppt wie Kommunismus oder dergl., statt zunächst sein Haus zu bestellen, aufzu- bauen auf eigenem Grunde und dann die Inneneinrichtung zu streichen, wird alles umgekehrt gemacht, dasselbe Schicksal dort vorbereitet, das den Juden überall dort droht und drohen muß, wo man sich nicht auf sich selbst besinnt und sklavisch Fremdes nacherzählt und sich gewaltsam zu assimilieren sucht. - Also zuerst das Haus und dann malen und streichen. Also vorerst baue Dein Haus – dann male es aus ! ! !
Ich bin gesund, mein Golderl, und verbringe den Tag recht glücklich: Ich habe nämlich das seltene Glück, in Gnaden einer charmanten und vornehmen, wenn auch nicht reichen Dame zu sein. – Diese einzige charaktervolle und aufrichtige Frau hat ein kleines Milchgeschäft, in dem ich frühstücke und wo mir diese hochherzige Frau alles sehr preiswert, ja fast umsonst zuläßt, weil ich Kundschaften rekommandiere und ihr manchmal Ratschläge erteile. Diese Frau ist eine rühmliche Ausnahme, hat ein goldenes Judenherz und ist XXX Tüchtiges, daß ich glücklich wäre, wenn Luschinka zu ihr in die Schule käme. Einstweilen aber muß Luisen bei Tante Gisa und Truderle bleiben, denn die arme Tante wäre ganz unglücklich, wenn sie ihre Luisa ver- lieren würde, an der sie mit abgöttischer Liebe hängt.
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VII Aber sie kommt doch schon nächsten Monat zu mir, wo wo aus sie noch schneller nach Palästina gehen kann als von Wien. Dort haben sich nämlich inzwischen die Ereignisse überstürzt. Die meisten Juden werden von ihren Hausherrn gekündigt und können überhaupt keine Wohnun- gen finden. Dazu kommen noch alle Juden aus der ganzen Provinz, welche auch binnen 14 Tagen dieselbe verlassen müssen. Auch unsere alten Großeltern sind ganz verzweifelt, daß sie bis zu 20. IX. Hollabrunn verlassen müssen. Jetzt stelle ich mir den Jammer vor, der auch Tante Gisa, Poldi und Lußinka, welche erst diese Woche über- siedelten und so viel Mühe und Geld für das Herrichten der Kanzlei und Küche aufwandten, wiederum nach Wien übersiedeln müssen. Grenzenloses Elend und unglückseliger Jammer, der über diese herrlichen und so wohltätigen Juden hereingebrochen. Ich fahre deshalb morgen nach Kanitz um dort durchzusetzen, daß man den Großpapa unter irgend einem Vor- wande die Einreisebewilligung in die Tschechoslowakei verschafft. Ich werde mich sehr bemühen und hoffe, daß es gelingen wird, da doch der Großpapa bis 1924 tschechischer Staatsbürger war und weil Kanitz auch einen Kantor braucht. Wenn nur die Unglücklichen schon hier wären. Lußa selbstverständlich kommt mit ihnen; dann werde ich schon etwas ruhiger sein.
Bevor ich nun von meiner Person berichten werde, will ich noch einiges zu dem Kapitel „Verwandtschaft“ und zu der hiesigen Judengesellschaft hinzufügen. Oskar Jellinek ist das vornehmste, edelste und großherzigste, was man sich vorstellen kann, sowohl seinen undankbaren, aber jetzt schon gebesserten Familienangehörigen gegenüber, als auch zu den vielen Flüchtlingen hier. Wenn es manchmal vorkommt, daß Emigranten wegen illegalen Grenzübertritt auf 8 – 14 Tage eingekastelt werden, dann läßt ihn das keine Ruhe und [nächste Seite]
VIII er bringt diese armen Teufeln Vorzik [?] um schweres Geld ins Gefängnis. Ebenso verzweifelten seelischen Verfassung sucht sie mir eine Beschäftigung. Nur diese furchtbaren, trostlosen Lage unserer so edlen Angehörigen so betrübt und niedergeschlagen, daß man sich schwer zu einer regelmäßigen schönen einige wenige rühmliche Ausnahmen gibt, die einem den Glauben an das wahrhaft ein Rechtsanwalt, der schon sein ganzes und großes Vermögen für die Emigranten geopfert hat, um den sich noch so einige hochherzige Juden geschaart, krampft sich mir das Herz zusammen, wenn ich diese vielen Frauen, Mütter mit Aber trotz allem, gerettet sind sie, frei atmen können in diesem unseren herrlich freien Land, wo auch die Bürger bis auf die Henleinbestien herrliche und einfühlende Menschen sind – abgesehen davon, daß sie tapfer sind und ihre klein und groß, jung und alt, Mann oder Weib, wir alle werden kämpfen wie die böhmischen Löwen. Ich schließe für diesmal und bitte von neuem nur an mich zu schreiben, da ich sowieso Deine Berichte weiter sende. Einstweilen umarme ich Dich über Berge und Meere hinweg Dein traurig-glückliches Paperl. |
Transcription by Peter Köppen
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